Die bleibende Stadt.

Beat Tanner

„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Hebräer 13,14

 

Im September letzten Jahres durfte ich ein paar Tage bei Freunden in Philadelphia verbringen. Am Sonntag besuchten wir den Gottesdienst in der Gemeinde, die ich schon in den Jahren 1992 bis 94 besucht hatte.

 

Der Text der Predigt handelte von Stephanus, der von den Pharisäern gesteinigt wurde: „Er aber, voll heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ Apostelgeschichte 7,55-56

 

Der Pfarrer führte aus, dass Jesus den sterbenden Stephanus stehend in der Ewigkeit empfangen hatte. Das Stehen Jesu neben dem Thron Gottes deutete der Pfarrer als Hinweis darauf, dass Jesus den Stephanus erwartete: ein eindrückliches und tröstendes Bild, das uns die Apostelgeschichte über den Tod von Stephanus vor Augen führt.

 

Am Tag zuvor hatten uns Freunde in die Altstadt von Philadelphia begleitet, um uns all die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Unter anderem stiessen wir bei der Suche nach einem Restaurant eher zufällig auf ein Denkmal: das „Irish Memorial“ (Irische Gedenkstätte).  

 

 

Es erinnert an die grosse Hungersnot in Irland und an die Landung der Flüchtlinge auf dem neuen Kontinent.

 

In den Jahren 1845 bis 1852 wurde Irland von einer Hungersnot heimgesucht, die einer Million Menschen das Leben kostete. Die angebauten Kartoffeln wurden alle zerstört, und da die Iren keine anderen Nahrungsmittel hatten, bedeutete dies für einen grossen Teil der Bevölkerung den sicheren Tod. Eine weitere Million Menschen wanderten aus, ein grosser Teil davon eben in die Vereinigten Staaten. 


 

Das Denkmal umfasst Skulpturen, die das Sterben der Hungernden zeigen und im fliessenden Übergang dazu die Ankunft der Flüchtlinge in der neuen Welt, die das Leben bedeutete. Wo die Reisenden aus dem Schiff steigen, erwartet sie ein stehender Mann mit einer ausgestreckten Hand als Zeichen des Willkommens!

 

Wir können uns wohl kaum vorstellen, welche Bedeutung dieser Mann mit den ausgestreckten Armen für die ankommenden Menschen hatte. Endlich jemand, der sie mit offenen Armen willkommen hiess, nachdem sie zuerst eine grosse Hungersnot erlebt hatten, bei der viele Kinder, aber auch Erwachsene ihr Leben lassen mussten; dann eine wochenlange Schifffahrt in ein unbekanntes Land, ohne zu wissen, wie man empfangen und ob man willkommen sein werde oder nicht. 

 

Sie hatten diese Bilder des Sterbens und des Todes noch immer vor Augen. Und nun ein freundliches Gesicht von jemandem, der sie im „Reich der Lebenden“ erwartete.

 

Ähnlich muss es Stephanus ergangen sein, als er Jesus vor sich sah. Der ganze Hass der religiösen Gelehrten entbrannte gegen ihn. Was Stephanus aber sehen durfte, war die Herrlichkeit und Gnade Gottes, Jesus selber, der ihn stehend neben dem Thron Gottes empfing. Im Angesicht von Jesus muss sein Gesicht so gestrahlt haben wie das des irischen Jungen, der dem Mann auf dem Schiffssteg entgegenblickt.

Mose erinnert uns in seinem 90. Psalm daran, dass wir an das Sterben denken sollen, auf dass wir klug werden. Und Paulus schreibt uns, dass „Christus unser Leben ist, und Sterben unser Gewinn.“ (Philipper 1,21). „Warum müssen wir noch sterben, obwohl Christus für uns gestorben ist?“, fragt der Heidelberger Katechismus in seiner 42. Frage und gibt folgende Antwort: „Unser Tod ist nicht eine Bezahlung für unsere Sünde, sondern nur ein Absterben der Sünden und Eingang zum ewigen Leben.“

 

Wer mit Christus lebt, lebt jetzt schon in seiner Gemeinschaft, und Sterben bedeutet nur noch, dass die letzte Herrschaft der Sünde von uns nun abgestreift worden ist. Der Tod hat seinen Stachel verloren, weil Jesus ja die Forderung der Sünde, nämlich den Tod, bereits bezahlt hat. Unser Ablegen der körperlichen Hülle beim Sterben ist der Eingang zum ewigen Leben mit Christus. 

 

An unserer Verbindung und Beziehung zu Ihm ändert sich nichts, ausser dass unsere Freude an Jesus dann vollkommen sein wird. Wenn wir unsere Freude jetzt schon mehr am Geber, Jesus Christus, haben als die Freude an den Gaben Gottes, wird uns der Tod nicht mehr so beängstigen. Denn dann können wir nicht mehr verlieren, was uns in dieser irdischen Heimat Sinn und Freude versprochen hat. Wie könnten wir die vollkommene Freude, die in Gott selber liegt, verlieren? Darum kann der Heidelberger Katechismus auch davon schreiben, dass unser Trost im Leben und Sterben alleine Jesus Christus ist. Wir sind sein teuer erkauftes Eigentum, ob wir leben oder im Sterben sind.

 

Es ist der Trost, der uns niemals zuschanden werden lässt, weil die Gemeinschaft Gottes mit uns selber ist. Und von diesem „Bund“ kann uns nichts trennen. Paulus schreibt: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn." Römer 8,38-39

 

Letzthin waren wir bei einer etwa 80-jährigen Frau zu Hause. Sie hatte im letzten Herbst ihren Gatten verloren. Sie empfing uns mit den Worten: „ Ich bin dankbar, dass es mein Mann nun besser hat als früher, wo er noch lebte und bei mir war. Und ich freue mich, dass ich hoffentlich auch bald heimgehen darf!“

 

Ein anderes Erlebnis hatte ich vor einigen Jahren mit einem Arzt, der schwer an Krebs erkrankt war. Beide, er und ich, waren zu einem Geburtstagsfest eingeladen, wo wir nun einander gegenübersassen. Ich wollte mich nach seinem Ergehen und seiner Krankheit erkundigen. Ich kam gar nicht richtig dazu. Er erzählte mir nicht von seinen Schmerzen, nicht von seiner Krankheit und seinem Leiden. Nein, er erzählte mir von der Gnade Gottes und Seiner Herrlichkeit. Einen Monat später starb er.

 

Martin Luther (1484 – 1546) hat eine Predigt geschrieben mit dem Titel „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben“ (1519). In dieser Predigt erwähnt Martin Luther immer wieder, dass wir das innere Bild des Schreckens über den Tod, die Sünde und die Hölle durch ein anderes Bild ersetzen sollen. Er ermahnt uns, uns anstatt des Bildes des Todes das Bild Jesu Christi, wie er um unsertwillen gestorben ist, vor Augen zu halten: „Darum lass dir’s [dieses Bild von Christus] nur nicht aus den Augen nehmen und such dich nur in Christo und nicht in dir, so wirst du dich ewiglich in ihm finden.“ Den Menschen, der nur seine Sünde und ihre Schrecken vor Augen hat, ruft er dazu auf, Christus zu sehen, der an unserer Stelle unsere Schuld getragen hat. Folgendes Bild sollen wir uns vor Augen malen: „Das ist Gnade und Barmherzigkeit, dass Christus am Kreuz deine Sünd von dir nimmet, trägt sie für dich und erwürget sie.“

 

Haben wir in dieses Bild von Christus vor unserem geistigen Auge? Auch die Angst vor der Hölle will Luther von Christus überwunden sehen. Er schreibt dazu: „Er weist und gibt dir in Christo des Lebens, der Gnade, der Seligkeit Bild, dass du vor des Todes, der Sünd, dein, der Höll Bild nicht dich entsetzest. Er legt dazu deinen Tod, deine Sünde, deine Höll auf seinen liebsten Sohn und überwind sie dir, macht sie dir unschädlich.“

 

Martin Luther macht uns immer wieder Mut, die Bilder des Todes, der Sünde und der Hölle durch das Bild Seines Sohnes zu ersetzen! Auch wir sind aufgerufen, mit unseren inneren Bildern einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Wo fliegen unsere Gedanken hin? Luther macht uns in seiner Predigt Mut: „Nun muss man in diesem Streit allen Fleiss darauf verwenden, dass man keines dieser drei Bilder ins Haus lade und den Teufel nicht über die Türe male. Sie werden schon von selbst nur allzu stark eindringen und das Herz mit ihrem Anblick, ihrem Disputieren und Beweisen ganz und gar innehaben wollen. Wenn das geschieht, so ist der Mensch verloren und Gott ganz vergessen; denn in diese Zeit [wo es sich um Bereitung zum Sterben handelt] gehören diese Bilder in gar keiner andern Weise herein, als um mit ihnen zu kämpfen und sie auszutreiben. Ja, wenn sie allein da sind, ohne dass man durch sie hindurch auf andere Bilder sieht, so gehören sie nirgends anders hin als in die Hölle unter die Teufel.“

 

Wie Stephanus Jesus Christus stehend ihn in der Herrlichkeit erwarten sah, dürfen wir uns dieses Bild von der Herrlichkeit von Jesus Christus immer wieder neu vor Augen malen. Das Bild der zukünftigen Stadt, Jesus Christus selber, die wir suchen, soll allezeit vor unseren Augen sein. Das ist sicher die beste Vorbereitung für das Sterben, denn wir sollen uns ja daran erinnern, dass wir einmal sterben müssen, damit wir klug und weise werden. Leben und Sterben geschehen beide in Gottes Gegenwart.

 

Erinnern wir uns auch, dass, ob wir leben oder sterben, es „in Christus“ geschieht. Beide, Leben und Sterben, sind in diesem Sinne gottesdienstliche Handlungen. Bereiten wir uns darum auf das Sterben vor, indem wir uns bewusst sind, dass wir vor Gott leben und auch vor Gott sterben, und sagen wir mit Luther: „Das helf uns Gott.... Amen.“