Lieblinge…

Ed Welch

Jakob macht mich wütend. In 1. Mose heisst es, dass er Josef mehr liebte als jeden seiner anderen Söhne (1. Mose 37,3). Obwohl die Schrift keinen expliziten Kommentar zu dieser Art von Bevorzugung abgibt, entfesselt Jakobs Vorliebe eine Familiengeschichte, die damit endet, dass Josefs Brüder ihn in die Sklaverei verkaufen. Jedes Mal wenn ich das lese, werde ich wütend.

 

Aber diese Geschichte hat eine Vorgeschichte und einen grösseren Rahmen. Vor Jakobs eklatanter Bevorzugung wurde er von seinem Onkel Laban betrogen. Ihm wurde eine Frau gegeben, die er nicht gewollt hatte. Das zwang Jakob die Polygamie auf und wir können mehr oder weniger verstehen, warum er eine Vorliebe für den Sohn seiner gewollten Ehefrau hatte. Die Polygamie ist also schuld. Jakob ist ebenfalls Opfer der Bevorzugung seiner Eltern gewesen. Sein Bruder Esau war der Liebling ihres Vaters und Jakob war der Liebling seiner Mutter. Unfassbar fürchterlich. In Josefs Geschichte gab es alle möglichen mildernden Umstände, aber ich bin trotzdem wütend auf Jakob. Er sündigte an seiner Familie, führte eine scheussliche Tradition fort und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass er dabei eine rühmliche Rolle spielte.

 

Auch heute ist es immer noch so, dass wenige Menschen eine rühmliche Rolle spielen. Frag einen beliebigen Menschen, ob dessen Eltern ein Lieblingskind hatten und sofort werden viel zu viele sofort mit Ja antworten. Und alle Geschwister werden darin übereinstimmen, wer der Liebling war. Es war in der Familie allgemein bekannt, als wäre es ganz normal. Manchmal denke ich, dass meine Frau und ich die einzigen Menschen sind, deren Eltern zu verstehen gaben, dass Liebe keine endlich begrenzte Materie ist. Man kann ein Kind von ganzem Herzen lieben und man kann ein anderes Kind von ganzem Herzen lieben.

 

Wir Menschen sind kompliziert. Deswegen treffen Verallgemeinerungen nicht auf uns alle zu, aber wenn du weisst, dass es in deiner Familie ein Lieblingskind gab und es nicht du warst, dann kannst du von Schwierigkeiten in deinem Leben ausgehen. Es wird Verunsicherung verstärken, dich dazu bringen übersensibel auf Ablehnung zu achten. Es wird dich anfälliger für Eifersucht machen, als du es sowieso schon bist. (Wenn du das Lieblingskind warst, dann kannst du von anderen Arten von Problemen ausgehen.)

 

Und trotzdem verändert der Herr den Lauf der Bevorzugung.

 

Erstens: Die Sünde der Bevorzugung (oder der Voreingenommenheit) ist für ihn eine grosse Sache. Aus rechtlicher Perspektive verurteilt Gott sowohl Arme als auch Reiche unvoreingenommen (3. Mose 19,15). Anders zu handeln ist Sünde. Es ist ein Brechen des Liebes-Gebots (Jakobus 2,9).

 

Angesichts kultureller und religiöser Voreingenommenheit, schadete Jesus sich selbst, indem er sich mit den Verachteten und Vergessenen abgab. Bevorzugung und Voreingenommenheit stehen typischerweise seitens jener, die uns ähnlicher sind oder einen Lebensstandard erreicht haben, den wir bewundern. Beliebt ist der Gutaussehende, begehrt der mit einem Diplom. Manchmal bevorzugen wir sie, weil sie unseren eigenen Ruf verbessern, aber Gott will nichts damit zu tun haben. Gott wählt beständig den Niedrigeren oder den weniger Beliebten. Er wählte die Zweitgeborenen, die kleinsten im Stall, die weniger Gutaussehenden, die Ausgestossenen, die Übergangenen, die Ungeliebten (5. Mose 21,15).

 

Die zentrale Geschichte der Könige Israels beginnt mit Saul, aufgrund seiner Gestalt und seines guten Aussehens der Liebling des Volkes, und geht weiter mit David, der in seiner eigenen Familie als der Geringste angesehen wurde und nicht mal anwesend war, als Samuel unter den Söhnen Isais nach Gottes auserwähltem König suchte. Der Apostel Paulus fügt hinzu, dass der Leib Christi aus den weniger schlauen Menschen besteht (1. Korinther 1,26-27). Heute kann man es in Indien unter den vielen Dalits [1] beobachten, die zu Jesus gezogen werden. Der Herr scheint spezialisiert darauf zu sein, jene um sich zu sammeln, die von anderen zurückgelassen werden (5. Mose 7,6-8). Gott wählt tatsächlich seine Leute. Aber er wählt seine Leute trotz und nicht wegen ihres Lebenslaufs.

 

Zweitens: Es ist ein Mythos, dass Liebe eine endlich begrenzte Materie ist. Die Wahrheit lautet, dass Gottes Liebe expandiert und wächst. Das heisst nicht, dass er einzelne Menschen über die Zeit hinweg mehr liebt. Da seine Liebe vollkommen ist, liebt er immer völlig und ewig. Es ist jedoch so, dass er mehr und mehr Menschen liebt, während sich sein Reich ausweitet. Es bereitet seinem Namen Ehre, dass er eine wachsende Familie und ein wachsendes Reich hat, in welchen er uns mehr liebt, als dass wir ihn zurück lieben könnten. Auch bei uns kann Liebe expandieren.

 

Zuerst könnte die Liebe deine Familie oder jemanden in deiner Familie beinhalten. Dann weitet sie sich auf einen Freund, auf einen Ehepartner, auf ein Kind und hin zu anderen Menschen aus. Es ist nicht nur so, dass die Liebe eines Menschen wächst und mehr Menschen beinhaltet, sondern sie gewinnt auch für jeden Menschen an Tiefe. Während wir in Christus wachsen lieben wir mehr, und auch mehr Menschen (1. Petrus 1,22). Die Liebe ist wie ein Ableger eines Weinstocks, der zu einem fruchtbaren Weinberg wird, oder wie ein Same, der zu einem Wald wird.

 

Es stimmt, dass wir ein Kind, das uns ähnlicher ist, besser verstehen können und wir neigen dazu, mit denen, die wir verstehen, geduldiger zu sein. Wir können in einem Kind Gutes und in einem anderen weniger Gutes sehen. Das ist nicht dasselbe wie Bevorzugung, aber das kann der erste Schritt dazu sein. Wenn die Bevorzugung wächst und über die Grenzen der Familie hinauswächst, dann führt sie zu Gruppenbildung in den Gemeinden. Doch damit nicht genug: Sie erschafft eine zersplitterte Welt, in der Gleichgesinnte sich als Richter über diejenigen aufspielen, die sie für geringer achten. Auch wenn wir vielleicht unterschiedlich auf Jakobs offenkundige Bevorzugung Josefs vor seinen Brüdern reagieren: Bevorzugung und Voreingenommenheit sind hässliche und verhängnisvolle Sünden.

 

Wenn du Lieblinge bevorzugst, dann ist dein Leben wie Jakobs Leben vielleicht kompliziert gewesen, aber deine Sünde, so weit verbreitet sie auch sein mag, Konsequenzen haben. Deine Taten offenbaren ein falsches Verständnis von Jesus und seinem Opfer für Sünden. Wenn du Opfer von Bevorzugung geworden bist, dann würdest du davon profitieren, dass Gott dir deine Geschichte erzählt. Füge unterwegs unbedingt Qualitätsmerkmale hinzu, wie zum Beispiel das komplette Erbe, das du durch und mit Jesus bekommen hast. Behalte den roten Faden der Geschichte im Blick – die Geschichte der grosszügigen Gnade Gottes – anstatt das, was du verdienst. Übe es, diese Geschichte Freunden zu erzählen. Achte beständig auf deine Neigung, sich Lieblinge anzuschaffen. Diese vergeht nicht einfach so.

 

[1] Die Dalits werden in der Gesellschaft Indiens als die niedrigste Kaste angesehen. Ein anderer Name für sie ist „die Unberührbaren“. 

Ein Artikel von Ed Welch Playing Favorites, erschienen am 19.08.2020 bei CCEF. Übersetzung von Viktor Zander.

 

Dieser Artikel ist urheberrechtlich geschützt durch die Christian Counseling & Educational Foundation (CCEF) © 2020. Der Original Artikel lautet Playing Favourites, Copyright © 2020 und wurde von Ed Welch am 19.08.2020 auf der ccef.org Homepage veröffentlicht. Jeglicher Inhalt ist urheberrechtlich geschützt und darf in keiner Weise ohne schriftliche Erlaubnis von CCEF verwendet werden. Für weitere Informationen über Materialien, Veranstaltungen, Lehrinhalte und Vorlesungen besuchen Sie bitte www.ccef.org. Vollständig übersetzt mit Erlaubnis der Christian Counseling & Educational Fundation (CCEF) von Viktor Zander für glaubend.de in Königsfeld, Deutschland. Die völlige Verantwortung für die Übersetzung liegt beim Übersetzer und bei Glaubend.de.