Seelsorge im 21. Jahrhundert

Beat Tanner

 „..und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume;

dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte

und viele durch sie unrein werden;

dass nicht jemand sei ein Abtrünniger oder Gottloser wie Esau,

der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte.“

Hebräer 12,15-16

 

 

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Für eilige Leser eine Zusammenfassung 

Die Seelsorge im 21. Jahrhundert leidet unter einem Gnadenmangel. Pragmatische, psychologische Lösungen für schwierige Lebensumständen und praktischen Tipps zur Umsetzung, zum Beispiel in der Kindererziehung, haben das Vertrauen und die Genügsamkeit in das Erlösungswerk von Jesus Christus im täglichen Leben abgelöst. Was zählt ist, was ich aus eigenem Vermögen umsetzen kann. Spannungen und Druck halten wir kaum oder gar nicht mehr aus und somit vertrauen wir lieber unserer Gerechtigkeit. Das Vertrauen auf die eigene Gerechtigkeit hat das Vertrauen auf die Gerechtigkeit, welche wir nur in Jesus Christus finden, längst abgelöst. Die Welt ist auch für Christen einfach geworden.

 

Für die sogenannte psychische Krankheiten den Psychiater; für das unaufmerksame oder aggressive Kind das Ritalin; für Burnout den Psychologen. Bei etwelche Schuldgefühle und eigenem Versagen, vertrauen wir den sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass ja die Gene für das Verhalten der Kinder verantwortlich sind und nicht zuletzt gibt es ja für die Eheprobleme den Paar- und Familientherapeuten.

 

Die Gnade Gottes in der Person von Jesus Christus hat in einem solchen Denkmodell keinen Raum mehr. Die Gnade wurde ersetzt durch Seelsorgemethoden und empirische, wissenschaftliche Erkenntnisse wurden zum Herzstück der Seelsorgeberatung. Natur, und nicht länger Gnade, ist das Zentrum der pastoralen Zuwendung: Abendmahl und Kreuz wurden ersetzt durch Diagnose und Doktorat, wie es Thomas Szasz stipulierte. Mit dem Verlust der Gnade haben wir das Erstgeburtsrecht des Erlösungswerks in Christus für ein Linsengericht an die Psychologie verkauft.

 

Der Schreiber des Hebräerbriefes erinnert uns daran, dass wir wachsam sein sollen. Wachsam, damit wir die Gnade Gottes nicht verpassen. Wir sollen die Augen auf die Gnade richten. Die Gnade ist eine Person, nämlich Jesus Christus, der Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebräer 12,1ff). Dieser Glaube ist die Gemeinschaft mit Jesu Christus unserem Herrn, zu der uns Gott in seiner Treue berufen hat.

 

Gnade bedeutet, dass der Gläubige vom "Reich der Finsternis und Sünde" in das "Reich Gottes" versetzt worden ist. Der Gläubig ist durch Gnade nicht mehr "in Adam", sondern "in Christus" und lebt somit nicht mehr unter der Herrschaft und Sklaverei der Sünde und seiner Selbstrechtfertigung. Der Trost, welcher im Leben und im Sterben bestand hat, beschreibt der Heidelberger Katechismus mit der Erlösung in Christus: „dass ich meines treuen Heilandes eigen bin!“

 

Seelsorge im 21. Jahrhundert

 

Was ist mit der Gnade geschehen?

Ein Hauptthema in der heutigen christlichen Seelsorge ist der Verlust der Gnade. Wie von Francis Schaeffer beschrieben, ist die Gnade von der Natur verschlungen worden. Gnade ist jedoch keine Methode oder eine philosophische Idee, sondern eine Person. Man kann heute davon sprechen, dass Gnade in der christlichen Seelsorge durch psychologische Methoden sowie empirische, wissenschaftliche Forschung ersetzt worden ist. Daraus ergibt sich, dass das Vertrauen der Menschen mehr und mehr auf Methoden und wissenschaftliche Forschung gelegt wird und als Folge davon der Glaube an die Gnade in der Person von Jesus Christus verloren geht.

 

Der Grund für die Entwicklung, in der Gnade mehr und mehr abgelehnt wird, geht zum einen auf den veränderten anthropologischen Ansatz von Pelagius zurück, einem britischen Mönch, der etwa von 350 bis 420 lebte. Dieser war der Meinung, dass der Mensch zumindest zu einem Teil etwas zu seiner Errettung beitragen kann, und sei es nur, indem er den Becher mit der Medizin eigenhändig zu sich nimmt um zu genesen. Diesem Ansatz wiederum widersprach Aurelius Augustinus, bekannt als der Lehrer der Gnade, in verschiedenen Schriften. Der Mensch, so ist Aurelius Augustinus überzeugt, ist tot in seinen Sünden (Epheser 2,8-10). Die Erlösung kann nur von einem Arzt, nämlich von Gott kommen, der alleine den gefallenen Sünder retten kann.

 

Im weiteren müssen wir auch über die sogenannte empirische Wende in der Seelsorge sprechen. Diese Veränderung in der christlichen Seelsorge wurde hauptsächlich von Anton T. Boison initiiert, dem Gründer von Clinical Pastoral Education (CPE). Durch ihn wurde das Studium der Heiligen Schrift ersetzt durch die “living human documents“. Das heisst, der Mensch und seine Erfahrung wurden zum Mittelpunkt der Beratung gemacht. Später wurde dieser Ansatz von der evangelikalen Seelsorge in Europa übernommen. Beinahe zur gleichen Zeit wurde Carl Rogers Ansatz der “therapeutischen Akzeptanz durch den Therapeuten“ zur hauptsächlich angewandten Methode innerhalb der Seelsorgebewegung. Es handelt sich dabei um den sogenannten “Rogerianischen Konsens“. Dieser geht davon aus, dass der Mensch Heilung und Veränderung durch die “bedingungslose, positive Akzeptanz“ des Therapeuten erfährt.

 

Innerhalb der Seelsorgebewegung hat sich eine Kombination von A.T. Boisens Ansatz der “lebenden, menschlichen Dokumente“ sowie des “Rogerianischen Konsens“ als allgemein akzeptierter Ansatz und Seelsorgemethode etabliert.

 

Paul Tillichs Schriften haben dann diesem Ansatz eine akzeptierte theologische Grundlage gegeben, wodurch dieses neue Seelsorgeverständnis und deren Methoden innerhalb christlicher Kreise legitimiert wurde. Durch Michael Dietrich wurde die Integration von psychologischen und empirischen Methoden innerhalb der evangelikalen Kreise in Deutschland und der Schweiz vorangetrieben. Die zunehmende Bedeutung seines Ansatzes führte dazu, dass die Dämme gegen die Integration von Psychologie innerhalb evangelikaler Kreise brachen. Sein Ansatz wurde weitestgehend übernommen und zum allgemein akzeptierten Ansatz in der christlichen Seelsorge.

 

Obwohl der US-Amerikaner Jay E. Adams versuchte, Seelsorge als pastorale Aufgabe innerhalb der Gemeinde zurückzugewinnen, konnte er nicht verhindern, dass die christliche Seelsorge ihre ehemals auf Gnade aufbauende, Christus-zentrierte Grundlage, verlor. Während in den Vereinigten Staaten, hauptsächlich unter dem Einfluss von Jay E. Adams eine Gegenbewegung zur psychologisierten Seelsorge stattfand, wurde der Ansatz von A.T. Boison und Carl Rogers in der Schweiz und Deutschland in keiner Weise in Frage gestellt.

 

So müssen wir feststellen, dass Seelsorgemethoden, welche sich aus der Psychologie ableiten, zum Ersatz für eine auf Gnade durch die Person Jesus Christus beruhende Seelsorge geworden sind. Die Gnade und damit die Person Jesus Christus wurden durch Seelsorgemethoden und empirische, wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzt und dadurch zum Herzstück der Seelsorgeberatung. Die Natur, und nicht mehr länger die Gnade, ist das Zentrum der pastoralen Zuwendung: Abendmahl und Kreuz wurden ersetzt durch Diagnose und Doktorat, wie es Thomas Szasz stipulierte.

 

Weil die Lehre der Rechtfertigung für die Erlösung des Menschen zentrale Bedeutung hat, ist es somit nicht erstaunlich, dass andere Mittel der Rechtfertigung als die "Rechtfertigung durch Glauben allein" mehr und mehr ersetzt haben. Der Mensch muss gerechtfertigt werden, entweder durch seine eigene Gerechtsprechung und Selbstgerechtigkeit "in Adam" oder durch den Glauben an Jesus Christus allein. Wir erinnern uns an Paulus Aussage in Römer 10,3: „Da sie Gottes Gerechtigkeit nicht erkannten und ihre eigene aufzurichten trachteten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen.“

 

Die christliche Seelsorge hat sich durch die Vernachlässigung und das Verwerfen der Lehre der Rechtfertigung allein durch Glauben grundlegend verändert. Die dadurch vollzogene Veränderung im seelsorgerlichen Ansatz ist fatal, denn er führte zum Verlust der Gnade, und damit auch zum Verlust zur Beziehung zu Jesus Christus.

 

Der Zustand zeitgenössischer Seelsorge

Es ist von höchster Wichtigkeit, dass wir verstehen, wie sich die aktuelle Seelsorgebewegung in Bezug auf die Rechtfertigung darstellt. Während Gnade und Rechtfertigung durch Glauben allein verworfen wurden, macht sich die Seelsorge abhängig von anderen Rechtfertigungsmethoden. Speziell in der pastoralen Beratung können wir drei verschiedene Arten von Rechtfertigung beobachten, abhängig von Kontext, Aufgabe und Bedürfnis einer bestimmten Person:

 

Der Ratsuchende: Die ontologische und existentielle Rechtfertigung. Der Ratsuchende findet Errettung durch die menschliche Annahme durch den Berater sowie einer psychologischen Zufriedenheit, welche emotional als Rechtfertigung wahrgenommen wird. Die Rechtfertigung des Ratsuchenden ergibt sich aus der Akzeptanz durch den Berater und Therapeuten. In dieser Weise wurde die existenzielle, ontologische Rechtfertigung zur therapeutischen Methode.

 

Der Berater: Die rationale und empirische Rechtfertigung. Der Berater findet seine Rechtfertigung auf Grundlage von Wissen und Methode, oder anders ausgedrückt, durch “Doktorat und Diagnose“ gemäss Thomas Szasz. Die Selbstrechtfertigung des Seelsorgers ist seine Diagnose sowie sein Doktorat. Damit ist die Kenntnis von Methoden und Techniken gemeint sowie das empirische, wissenschaftliche Wissen, das man sich in seiner Ausbildung angeeignet hat. Das heisst, Rechtfertigung liegt für den Berater in der rationalen Betrachtung seiner Arbeitsweise.

 

Im sozialen Kontext: Die partizipierende Rechtfertigung. Die Gesellschaft, inklusive die christliche Kirche und freikirchliche Gemeinden, betrachten empirisches Wissen als höchstes Ziel. Gläubige werden in ihrem sozialen Kontext dadurch akzeptiert, indem sie die wissenschaftliche und empirische Forschung anerkennen, wodurch sie eine partizipatorische Rechtfertigung durch das soziale Umfeld erhalten. Innerhalb eines bestimmten sozialen Umfeldes akzeptiert zu sein bedeutet dann, gerechtfertigt zu sein durch die partizipatorische Rechtfertigung dieses Umfeldes. Das heisst, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppierung wird zur Rechtfertigung des einzelnen Gläubigen. Wir können hier sehr gut die Verschiebung beobachten von der Rechtfertigung in Christus allein hin zur Akzeptanz durch die Gemeinschaft, zu der jemand gehören möchte.

 

Es ist offensichtlich, dass die zeitgenössische Seelsorgebewegung nicht sehr viel Gewicht auf die alte reformierte Lehre der Rechtfertigung durch Glauben allein legt. Aus diesem Grund hat diese alte Lehre ihre Bedeutung innerhalb des theologischen und praktischen Dienstes der Poimenik (1) komplett verloren. Die Lehre, welche auf Rechtfertigung durch Glauben allein beruht, erscheint ungenügend verglichen mit den Erkenntnissen, welche durch empirisches Wissen von Psychologie und Medizin gewonnen werden. Durch säkulare Psychologie wurde die christliche Seelsorge konfrontiert mit verschiedenen Aspekten der Rechtfertigung, welche ansprechender und annehmbarer erscheinen als die alte Lehre. Als Folge davon verhält sich die christliche Seelsorge gegenüber diesen neuen Formen der Rechtfertigungen als Bittstellerin. Durch diese Entwicklung innerhalb der Seelsorgebewegung verlässt die christliche Seelsorge in der Konsequenz die Gnade, welche wir allein in der Erlösung in Christus finden.

 

Wie wir leicht erkennen können, ist die Rechtfertigung das Ziel eines jeden Menschen, ob wir das zugeben oder nicht. Es muss jedoch festgestellt werden, dass ungleich der alten Lehre der Rechtfertigung allein durch Christus alle anderen Arten der Rechtfertigung ohne die Gnade Gottes erworben werden können. Daraus schliessen wir, dass diese Arten der Rechtfertigung ein Resultat der Anstrengung des gefallenen Menschen sind, sich selbst zu rechtfertigen, das heisst, sie alle entstammen dem Versuch der Selbstrechtfertigung.

 

Mit dem Verlust der Gnade durch die Person Jesus Christus in der zeitgenössischen Seelsorge ist auch die Gerechtigkeit in Jesus Christus verloren gegangen. Obwohl diese es dem sündigen Menschen allein ermöglicht, ohne Anklage und Verurteilung vor Gott zu stehen (Römer 8,1). Und das war genau das, was die Reformatoren des 16. Jahrhunderts “Rechtfertigung allein durch Glauben“ nannten. Während die Rechtfertigung durch Glauben allein dem Menschen fremd ist und von “extra nos“ kommt, sind die anderen Arten der Rechtfertigung Formen der Selbstrechtfertigung und deshalb, wie Paulus es nennt, Werke des Gesetzes, die durch den Menschen selbst vollbracht werden.

 

Aus diesem Grund müssen die Grundlagen des christlichen Glaubens und der Seelsorge reflektiert werden. Die Erinnerung an die Glaubensväter, auf deren Glauben die Kirche gebaut wurde, muss wieder geweckt werden. Die Erlösung in Christus beruht auf der Rechtfertigung durch den Glauben und das Wort Gottes allein.

 

Intention und Struktur

Das Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, den Verlust der Gnade aufzuzeigen, insbesondere innerhalb der Poimenik, sowie eine Betrachtung über die Zurückgewinnung der Gnade, welche in den hermeneutischen (2) Prinzipien der Rechtfertigung liegt. Es soll gezeigt werden, dass die hermeneutischen Prinzipien der Rechtfertigung in allen Bereichen der christlichen Seelsorge ganz einfach anwendbar sind. Um die Rechtfertigung durch Glauben allein innerhalb des Gemeindedienstes anwendbar zu machen, möchte ich anschliessend vier Bereiche ansprechen, welche in einem Christus-zentrierten Ansatz der Seelsorge von Bedeutung sind. Diese vier wichtigen Bereiche sind:

  • Die Methoden der Seelsorge
  • Der Beratungskontext
  • Anthropologie (3)
  • Soteriologie (4)

Die These

Die Rechtfertigung durch den Glauben allein mittels der Formel “Gesetz und Evangelium“, wie von Martin Luther interpretiert, ist eingebettet in die Schöpfer-Geschöpf-Beziehung. Die Lehre der forensischen Rechtfertigung ist im Grunde ein Prinzip der Stellvertretung (2. Korinther 5,21) und kann deshalb nur auf der Beziehungsebene verstanden werden. Diese Beziehung umschreibt das Hohelied der Liebe eindrücklich mit den folgenden Worten (Hohelied 2,16): „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein.“

 

Diese beziehungsabhängige Dimension des Glaubens, nämlich die Rechtfertigung durch den Glauben in Jesus Christus, liefert das hermeneutische Prinzip in der Poimenik. Ausserdem begründet dieses hermeneutische Prinzip Grundlage und Proprium (5) der gesamten christlichen Poimenik, einschliesslich ihrer Methoden, ihres Kontextes, ihrer Anthropologie und ihrer Soteriologie.

 

Rechtfertigung: Eine Beschreibung

Als Gott im Anfang Himmel und Erde erschaffen hat, schwebte der Geist Gottes über den Wassern. Später wurde der Geist Gottes durch den Autor des Hebräerbriefes als Sohn Gottes, Jesus Christus und als die Herrlichkeit Gottes selbst identifiziert (Hebräer 1,1-3). Dass heisst, die Wolke der Herrlichkeit Gottes bedeckte die Schöpfung seit dem Anfang. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Theophanie (6) der Wolke der Herrlichkeit das spezielle Muster war, in dem der Mensch im Bilde Gottes erschaffen wurde. Paulus bezieht sich später in den Briefen an die Hebräer und Epheser auf Christus, der den Menschen wahrhaftig erlöst sowie heilig- und gerecht gesprochen hat (Hebräer 1,3; Epheser 4,20-24). Wir schliessen daraus, dass die Wolke der Herrlichkeit das archetypische Muster ist, in welchem der Mensch im Ebenbilde Gottes erschaffen wurde. Daraus ergeben sich vier verschiedene Erkenntnisse:

  • Erstens erkennen wir, dass die ganze Schöpfung von der Herrlichkeit Gottes bedeckt ist, welche immer eine schöpferische und wiederherstellende Funktion durch das Werk des Heiligen Geistes hat. Wir beobachten dieses Muster in der Erschaffung der Erde (Genesis 1 und 2), der Erschaffung des Menschen (Genesis 2,7), dem Exodus und der Wolke der Herrlichkeit selbst, sowie der Teilung des Roten Meeres, wodurch das Volk Israel ins Heilige Land gelangen konnte.
  • Zweitens wurde auch der Mensch seit Beginn an durch die alles bedeckende Herrlichkeit Gottes beschützt. Nach dem Sündenfall hat der Mensch diesen Schutz verloren. Seither ist der Mensch gezwungen, seine Scham mit Feigenblättern zu bedecken und sich so selbst zu rechtfertigen (Galater 3,10 und 13).
  • Drittens beobachten wir, dass ein Mensch, dessen Augen von Gott geöffnet wurden, hinter den Schleier blicken und Gott auf seinem Thron als heiligen Richter und Ratgeber sehen kann (Sacharja 3,1-5; Jesaja 6,1ff; Hesekiel 1).
  • Viertens sehen wir den Zusammenhang zwischen der Wolke der Herrlichkeit in Genesis 1,2 und der Ankunft des Neuen Jerusalems in Offenbarung 21. Wenn sowohl Schöpfung als auch die Menschheit vollständig erlöst und erneuert sein werden, wird der ursprüngliche Zustand der Schöpfung wieder hergestellt sein.

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Erlösung in Jesus Christus durch die drei Ämter von Christus als König, Priester und Prophet erworben wird.

  • Die Unfähigkeit des Menschen, das Gesetz zu halten, bringt Schuld und Scham hervor und kann nur durch ein Opfer gesühnt werden. Der gefallene Mensch muss durch das von einem Priester dargebrachte Opfer freigekauft werden.
  • Der am Gesetz schuldig gewordene, versklavte Mensch braucht ausserdem die Offenbarung des Propheten, durch die sein verdunkelter Verstand erleuchtet wird. Diese Offenbarung kann nur durch das Amt eines Propheten kommen, der die letztlich absolute Wahrheit spricht.
  • Die gefallene Menschheit ist auch gefangen, sowohl durch die Macht der Sünde als auch des Gesetzes, und deshalb nicht in der Lage, sich selbst zu befreien. Die Erlösung verlangt nach einem König, welcher die Macht hat, den gefallenen Menschen freizusetzen und ihn durch die Kraft des Geistes und des Wortes zu regieren. 

Weil Rechtfertigung immer mit dem Gesetz verknüpft ist, können wir davon ausgehen, dass das Gesetz nicht nur in der Beziehung des Menschen zu Gott präsent ist, sondern auch in Beziehung des gefallenen Menschen zu Adam. Der unerlöste Mensch lebt "in Adam" und damit unter dem Gesetz der Sünde (Römer 7,23). Tatsächlich treffen wir sogar auf drei Arten des Gesetzes, mit welchen sich der Mensch auseinandersetzen muss:

 

A) Das Gesetz der Natur, welche die physikalischen Gesetze der Erde und des menschlichen Körpers beinhalten. Durch sie werden Erde und Mensch von Gott physikalisch regiert.

B) Das Gesetz der Sünde, welches speziell in Römer 6 bis 8 beschrieben wird. Dieses regiert und kontrolliert das Herz des unerlösten Menschen.

C) Das Gesetz Gottes, welches uns letztlich als “Paidagogos“ (7), als Zuchtmeister zu Jesus Christus führt (Galater 3,24). Dieses Gesetz erfüllt Jesus Christus stellvertretend für uns durch seine aktive und passive Gerechtigkeit.

 

Jedes dieser Gesetze benötigt die drei Ämter des Königs, Priesters und Propheten, um funktionsfähig zu sein. Auch das Gesetz der Natur, welches hauptsächlich biologische, chemische und physikalische Gesetze beinhaltet und sowohl empirische Forschung wie auch psychologische und psychiatrische Behandlungen miteinschliesst, kann nur durch Wahrheit, Kraft der Veränderung und soziale wie kulturelle Autorität verstanden werden. Wir können erkennen, dass die Wahrheit dem Amt des Propheten entspricht, die Kraft zur Veränderung dem Amt des Königs, und die kulturelle Autorität zeigt auf den Priester hin.

 

Durch Wissenschaft und empirische Forschung kann der Mensch gesundheitliche Probleme oder die Folgen von Umweltkatastrophen limitieren und Hilfe schaffen. Das ist die “allgemeine Gnade“, die Güte Gottes, durch die er die Folgen der Sünde nach dem Sündenfall durch seine Gnade und sein Erbarmen beschränkt.

 

Auch das Gesetz der Sünde, welches in den menschlichen Herzen herrscht, benutzt, wenn auch in pervertierter Form, die drei Ämter von Prophet, König und Priester. Das Gesetz der Sünde gibt vor, dass es die Wahrheit besitzt und auslebt, indem es lügt, betrügt und so den Verstand des Menschen verdunkelt. Natürlich gaukelt das Gesetz der Sünde dem Menschen auch vor, Verän-derung hervorzubringen. Diese Veränderung treibt den Menschen jedoch in immer mehr in die Abhängigkeit und damit in die Sklaverei von der Sünde. Bestenfalls bewirkt es gewisse Veränderungen, welche alleine auf menschliche Bemühungen zurückzuführen sind und ihm ermöglicht, innerhalb der Gesellschaft besser zu funktionieren. Hierbei fehlt jedoch immer die Gnade Gottes. Die pervertierten Ämter des Priesters, des Königs und des Propheten täuschen dem Menschen vor, dass er sich durch aufopferungsvolle Taten und Werksgerechtigkeit selbst erlösen kann.

 

Seit seiner Erschaffung sind auch dem Menschen diese drei Ämter gegeben. Durch den Fall sind sie nicht verloren gegangen sondern pervertiert worden, um sündigen Zwecken zu dienen. Das heisst hauptsächlich um der menschlichen Ehre zu dienen, anstatt sich an Gott zu erfreuen und ihn zu ehren. Um erlöst zu werden und wahre Heiligkeit und Gerechtigkeit zu erlangen, benötigt der Mensch die durch den wahren Propheten gesprochene, befreiende Wahrheit. Auch benötigt er den König, der die Macht hat, zu regieren und zu erlösen und den Priester, der sich an unsere Stelle „ein für alle Mal“ (“epaphax“) geopfert hat. Jesus Christus erfüllt durch die drei Ämter alle Voraussetzungen um den gefallenen Menschen zu erlösen, indem er durch die Macht seiner Ämter unsere durch die Sünde und Ungerechtigkeit verschmutzte Kleidung wegnimmt und uns in sein neues Kleid der Gerechtigkeit hüllt (Sacharia 3,1-5 und Jesaja 61,10).

 

Wir können also feststellen, dass die Wissenschaft wie auch die empirische Forschung dazu dienen, die Konsequenzen des Falls zu limitieren und Erleichterung zu schaffen. Jedoch haben sie keine Erlösungskraft. Deshalb müssen Psychologie und empirische Forschung von der christlichen Poimenik unterschieden werden. Das heisst, Wissenschaft und empirisches Wissen sollten innerhalb der christlichen Poimenik nicht als unterstützendes oder gar gleichwertiges Mittel gesehen werden. Poimenik und Psychologie sollten nicht vermischt werden, sondern als unterschiedliche Herangehensweisen betrachtet werden. Psychologie und Wissenschaft wurden mit der christlichen Seelsorge vermischt, anstatt sie wieder unter die Herrschaft des Schöpfers zu bringen.

 

Rechtfertigung: Das hermeneutische Prinzip

Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung allein aus Glauben wird am besten durch den Ausdruck “ausziehen“ bzw. “anziehen“ beschrieben. Wie können wir diese Formel verstehen? Wir sehen ein Beispiel dafür in Römer 4. Paulus bringt an dieser Stelle zwei Dinge zusammen: Einerseits die Rechtfertigung durch die Vergebung der Schuld, das ist das „Ausziehen“ und andererseits die Bedeckung der Blösse des Menschen, das ist das „Bedecken“, wie es König David in Psalm 32,1-2 beschreibt. Dieses Heilshandeln Gottes bringt Paulus dann mit den Glauben von Abraham, wie er in 1. Mose 15 beschrieben wird in Verbindung. Psalm 32 beschreibt die Vergebung der Sünde durch das Aufdecken und Bekennen und das anschliessende Bedecken der Sünde durch die Bedeckung mit der Gerechtigkeit Jesu Christi. Diese Erlösung in Christus steht im Zusammenhang mit dem Glauben an Jesus Christus. Aus diesem Grund macht Paulus die Verbindung zwischen Davids Psalm und Abrahams Gehorsam im Glauben. Auf diese Weise verstehen wir die Erlösung der Rechtfertigung, die Paulus im Römerbrief beschreibt, nicht nur als reinen gesetzmässigen Akt, wie das griechische Wort “logizomai“ zuerst vermuten lässt, sondern gleichzeitig als Beziehungs- und Bundesakt.

 

Wahre Rechtfertigung durch Glauben ist eine Deklaration, welche dem Menschen erlaubt, gerecht vor einem heiligen Gott zu stehen. Das griechische Wort “logizomai“ ist vom griechischen Wort “logo“ abgeleitet, welches “Wort“ bedeutet. Dies beinhaltet die Fähigkeit zu kalkulieren, logisch zu denken und demzufolge eine logische Tatsache zu verstehen und daran zu glauben. Im paulinischen Denken geht es also darum, dass die Rechtfertigung durch Glauben, das heisst das Akzeptieren der Tatsache, dass unsere Sünde und Scham durch göttliche Macht und für uns Menschen wesensfremde Gerechtigkeit ersetzt wird, auf der Autorität des allmächtigen und erlösenden Gottes beruht. Dieser epistemologische (8) Prozess ist nur einem vom Heiligen Geist erleuchteten menschlichen Verstand möglich. Wir sehen also, dass “Rechtfertigung allein durch Glauben“ nicht nur ein beziehungsmässiger Akt ist, sondern gleichzeitig eine Deklaration, die den Gläubigen in Gottes Augen für gerecht erklärt.

 

Der beziehungsmässige Charakter und gleichzeitige Gerechtsprechung, der “Rechtfertigung durch Glauben“ ist auf wunderbare und erstaunliche Weise in 2. Korinther 5,21 beschrieben: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm.“ Jesus Christus nimmt unsere Sünden weg und bedeckt den Sünder mit seiner göttliche Gerechtigkeit. Martin Luther beschreibt dieses Erlösungswerk in seiner Schrift “Die Freiheit eines Christenmenschen“ (1520). Durch seinen Glauben wird der Gläubige zur Braut Christi. Auf diese Weise wird ein ewiger Bund geschlossen mit dem Versprechen: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein.“ Hohelied 2,16.

 

Diese Deklaration gilt also nicht nur im legalen Sinn, sondern muss primär auf einer beziehungsmässigen Ebene verstanden werden. In diesem Bund der Erlösung sagt Jesus Christus zum gefallenen Menschen: „Du gehörst mir“, das heisst: „Ich bin für deine Sünde und Scham gestorben und ich nehme deine Sünde und Scham mit ans Kreuz.“ Der Gläubige antwortet: „Ich gehöre dir“ und ich setze mein Vertrauen auf die von Jesus Christus zugesprochene Gerechtigkeit. Dies bedeutet, dass der Mensch demütig seine Feigenblätter, das heisst seine Selbstgerechtigkeit, ablegt und alleine auf die Gerechtigkeit in Jesus Christus vertraut. Dieser „fröhliche Tausch“ wie Luther ihn nennt, ist unter anderem in 2. Korinther 5,21 beschrieben.

 

Während wir unser Augenmerk auf den forensischen und beziehungsmässigen Aspekt der Gerechtigkeit durch Glauben richten, sollten wir nicht die anthropologische Tatsache übersehen, dass der durch den Sündenfall nackte und blossgestellte Mensch einer göttlichen Bedeckung zu seiner Erlösung bedarf. Weil die Anthropologie immer unsere Sichtweise der Soteriologie bestimmt, sehen wir, dass das seit Anbeginn bestehende Bedürfnis des Menschen nach Bedeckung auch immer den soteriologischen Aspekt beinhaltet. Die Bedeckung durch die Gerechtigkeit in Christus ist deshalb das zentraler Thema einer christlichen Seelsorge.

 

Wir sehen, dass Rechtfertigung durch Glauben allein der Anthropologie und Soteriologie entsprechen, welche wir in der Heiligen Schrift finden. Der Mensch hat grundsätzlich das Bedürfnis bedeckt zu sein. Bereits auf den ersten Seiten der Bibel wird beschrieben, wie der Mensch seine Nacktheit zu bedecken versucht. Nach dem Sündenfall lesen wir von der Beschämung unserer Urahnen, welche sich nackt voreinander und vor Gott befanden. Ihre unmittelbare, zwangsgesteuerte Reaktion war, sich mit Feigenblättern zu bedecken und sich hinter Büschen zu verstecken. Es ist als Akt der Gnade zu verstehen, dass Gott sie anschliessend mit einem Tierfell bedeckte.

 

Auch an anderen Stellen in der Bibel sehen wir, wie wichtig die Bedeckung des Menschen durch Gottes Gerechtigkeit ist. Wir begegnen dem wundervollen Gewand des Hohepriesters, beschrieben in Exodus 28. Später finden wir eine andere Stelle, an der von den Kleidern des Heils und dem Mantel der Gerechtigkeit die Rede ist (Jesaja 61,10). Schlussendlich finden wir im Neuen Testament in Epheser 6 die Umschreibung der göttlichen Bedeckung in Form einer Kriegsbekleidung. Diese sogenannte Waffenrüstung ist eine Kriegsbekleidung im Sinne, dass der Mensch im Kampf steht zuerst nach der Gerechtigkeit Gottes zu streben und nicht nach seiner eigenen Rechtfertigung. Wir stellen sehr schnell fest, dass diese Waffenrüstung Jesus Christus selbst ist und er selber an unserer Stelle diesen Kampf führt. Der paulinische Ausdruck “in Christus“, welche er in seinen Briefen benutzt, beschreibt den Gläubigen, eingehüllt und bedeckt mit der Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi.

 

Jedes menschliche Wesen hat das Bedürfnis, bedeckt zu sein, entweder durch seine eigene Selbstgerechtigkeit oder durch das “extra nos“, das heisst die Bedeckung durch die Gerechtigkeit und Heiligkeit von Jesus Christus. Ausgehend davon sehen wir dasselbe Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Liebe im sozialen Beziehungsfeld und interessanterweise auch in neurobiologischen Prozessen. In den Sozialwissenschaften finden wir zum Beispiel die Terminologie von “sicher-gebundenen“ und “unsicher-gebundenen“ Kindern, was damit zusammenhängt, wie weit die Kinder von der Liebe der Eltern beschützt und bedeckt sind.

 

Auf dem Gebiet der Neurobiologie sprechen wir von der “Konsistenzsicherung“, ein Begriff, welcher von Karl Grawe, ehemaliger Professor für Neuropsychologie an der Universität Bern, geprägt wurde. Hier sprechen wir von der Notwendigkeit, durch die entsprechende Gehirntätigkeit neue funktionale Kongruenz im Gehirn zu vermeiden bzw. herzustellen. All diese verschiedenen Terminologien, welche einem bestimmten Wissensbereich zugeordnet werden können, erklären dasselbe, nämlich das Bedürfnis des Menschen, mit Liebe und Gerechtigkeit bedeckt zu sein.  Wenn wir von der Theologie ausgehen, können wir das menschliche Bedürfnis nach Bedeckung als hermeneutisches Prinzip der Rechtfertigung wie folgt darstellen:

 

Dieses hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung ist auch auf andere Gebiete der Poimenik anwendbar, beispielsweise auf ihre Methoden und Techniken sowie auf Inhalt, Standort, Anthropologie und Soteriologie.

 

Vier grundsätzliche Themen in der zeitgenössischen Seelsorge

 

1) Die Methode der Seelsorge

Jede Methode in der Seelsorge muss mit dem System übereinstimmen, in dessen Kontext sie angewendet wird. Das heisst, christliche Seelsorge muss um das Prinzip der Gnade wissen und in diesem Kontext arbeiten.

 

Aus diesem Grund sollte christliche Seelsorge sich nicht wie eine Bettlerin verhalten und sich der Techniken und Methoden der “allgemeinen Gnade“ bedienen. Im Gegenteil sollte sich die christliche Seelsorge der Natur und der Methoden beider Königreiche Gottes bewusst sein. Wir sprechen hier vom Königreich Gottes, der “speziellen Gnade“, sowie dem Königreich Gottes, der “allgemeinen Gnade“. Die Methoden der christlichen Poimenik müssen sich also unterscheiden von den Methoden der zeitgenössischen Seelsorgebewegung, und ein Seelsorger sollte die Grundlagen beider Methoden kennen.

 

Natürlich muss gesagt werden, dass das hermeneutische Prinzip vom empirischen Standpunkt aus nicht verstanden werden kann, weil es eine Frage der Gnade ist. In seiner Schrift “Von weltlicher Obrigkeit. Wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei?" (1523) schreibt Martin Luther, dass das Königreich Gottes der “speziellen Gnade“ nur durch den Heiligen Geist und das Wort Gottes regiert werden kann. Auf der anderen Seite kann das weltliche Reich Gottes, das der "allgemeinen Gnade" nur durch “Eisen“ regiert werden. Martin Luther umschreibt die Methoden und Techniken des “allgemeinen Königreichs“ mit dem Wort "Eisen“. Mit dem Ausdruck "Eisen“ meint Martin Luther, das Schwert der Obrigkeit welches das Gesetz ist. Übertragen in die heutige Zeit bedeutet das "Eisen", die Methoden und Techniken der Psychologie und Psychotherapie. Denn diese bedürfen zu ihrer Wirksamkeit keiner "speziellen Gnade". Sie sind deshalb ungeeignet, das Herz des Menschen zu regieren. Die “eisernen Methoden“ stehen im Gegensatz zum Wort und Geist Gottes, welche als einzige fähig sind, das menschliche Herz zu verändern und zu leiten. Gemäss Martin Luther zerstören die “eisernen Methoden“ die Seele des Menschen. Nur durch Jesus Christus, sein Wort und seinen Geist kann die menschliche Seele regiert werden, denn nur er kann sie rechtfertigen. Trotzdem finden die “eisernen Methoden“ im Bereich des irdischen Königreichs Anwendung.

 

Mit der Ausbreitung und Entwicklung der Seelsorgebewegung seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts ging auch das Bemühen einher, psychologische Methoden und Techniken in die christliche Seelsorge zu integrieren. Wir können sogar feststellen, dass das Erlernen und Anwenden von psychologischen Methoden zum Mittelpunkt der Seelsorgebewegung geworden ist. Weil Methoden und Techniken immer wichtiger wurden, wurde die Seelsorge zu einem erlernbaren und machbaren Handwerk. Das heisst auf der anderen Seite, dass der Glaube an die Gnade in der Person von Jesus Christus mehr und mehr verloren ging. Gleichzeitig wurde immer mehr Vertrauen und Hoffnung auf empirische Erkenntnisse, das ist die "Diagnose“, und das “Doktorat“, das ist die Autorität der Wissenschaft, gesetzt. In diesem Prozess wurde die Bibel immer weniger relevant, während die Texte der “living human documents“ immer mehr an Autorität gewannen.

 

Die Hauptfrage, welche sich in der Seelsorgebewegung nach wie vor stellt, heisst: „Wie soll ich vorgehen?“ Jeder Seelsorger geht davon aus, dass es eine bestimmte, definierte Herangehensweise gibt, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Von diesem Verständnis ausgehend hat der Seelsorger die Macht und Kontrolle, um zu heilen und somit zum säkularen Priester zu werden. Die Frage der Poimenik stellt sich aber auf der beziehungsmässigen Ebene und ist daher eine exegetisch-hermeneutische Frage. Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung ist also die Basis für die Methode der Poimenik. Das hermeneutischen Prinzip der Rechtfertigung könnte man so umschreiben, dass die “Exegese (9) des Menschen“ in einen Bezug zur “Exegese der Schrift“ gesetzt werden muss.

 

Diese exegetisch-hermeneutische Aufgabe kann jedoch nur im Licht der Heiligen Schrift gelöst werden. Der exegetisch-hermeneutische Ansatz stellt die Frage nach dem “Wer?“. Die “Wer?“-Frage ist eine Frage auf der Beziehungsebene, welche nach einer Person fragt, die zuverlässig ist und die Macht hat zu erlösen. Sie sucht nicht nach einer Methode oder Technik. Der Wechsel von der “Wer?“-Frage zur “Wie?“-Frage wurde zum dramatischen und fatalen Ereignis innerhalb der Seelsorgebewegung. Denn die “Wie?“-Frage fragt nach einer Technik oder Methode und wendet sich daher vom Erlöser ab. Es ist der Verlust der Gnade und damit der Person Jesus Christus, welche von der Natur “verschlungen“ wurde, wie Francis Schaeffer es sagen würde.

 

Um den exegetisch-hermeneutischen Aspekt einer Christus-zentrierten Poimenik zu verstehen, werfen wir einen kurzen Blick auf den sogenannten “Bruch im Gespräch“. Speziell der “kerygmatischen Seelsorge“, welche hauptsächlich durch Eduard Thurneysen und Hans Asmussen repräsentiert wird, wird vorgeworfen, dass sie das Seelsorgegespräch in zwei Sphären aufteilt, welche nicht mehr auf einander bezogen sind. Dieser Vorwurf ist jedoch nicht haltbar. Tatsächlich gibt es einige Hinweise darauf, dass der sogenannte “Bruch im Gespräch“ eine hermeneutische Notwendigkeit ist und auf keinen Fall eine besondere Kategorie einer Beratungsmethode. Der “Bruch im Gespräch“ ist eine Veränderung im Herzen des Ratsuchenden und von daher ein epistemologisches Ereignis. Die Erleuchtung des menschlichen Herzens ist jedoch kein Vorgang, der unter menschlicher Kontrolle stattfindet, sondern alleine unter Gottes souveränem Handeln und durch seine Gnade. Die Veränderung im Denken des Ratsuchenden basiert auf dem exegetisch-hermeneutischen Prozess der Gnade, welche die Grundlage der christlichen Seelsorge ist.

 

Aus diesem Grund ist der “Bruch im Gespräch“ eine fundamentale Voraussetzung für das exege-tisch-hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung. Dieser “Bruch im Gespräch“ ist nur möglich durch das Gewinnen von epistemologischer Einsicht durch die Verkündigung des Wort Gottes. Dies geschieht nur dann, wenn die “Selbsterkenntnis“ und die “Gottes Erkenntnis“ gegenseitig übereinstimmen, wie es John Calvin zu Beginn seines Werkes “Institutio“ darlegt. Ohne Verkündung des Evangeliums ist wahrhaftige Erkenntnis des Selbst und Gottes nicht möglich. Wir können also die Methode der Poimenik wie folgt darstellen:

 

2) Der Beratungskontext: Die zwei Reiche Gottes

An dieser Stelle möchte ich auf den Kontext und die Stellung der Poimenik innerhalb der zwei Reiche Gottes eingehen. Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung liefert einen hilfreichen Beitrag, um Kontext und Stellung der Poimenik zu definieren. Dies ohne in Gefahr zu laufen, dass die Gnade durch die Natur ersetzt oder das Bedürfnis der menschlichen Seele vernachlässigt wird oder existentielle Fragen nicht beantwortet werden. Gleichzeitig wird die Beziehung zwischen Poimenik und Psychologie und ihre entsprechende Gewichtung offensichtlich.

 

Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung steht auch im Kontext zu den zwei Königreichen Gottes, welche einerseits christliche Seelsorge und Psychologie in den richtigen Zusammenhang stellen und andererseits klar machen, dass alle menschlichen Wesen letztlich vor Gott leben. Das heisst, der Mensch lebt “coram Deo“ und seine einzige Bestimmung ist es, in der Furcht Gottes zu seiner Ehre zu leben, also “doxa tou theou“.

 

Um die Beziehung zwischen Poimenik und Psychologie zu verstehen und in der Lage zu sein, beide in ihren entsprechenden Kontext zu setzen, müssen wir zuerst sorgfältig zwischen Gott als Schöpfer und dem Menschen als Schöpfung unterscheiden. Die Weisheit und Herangehensweise der Kirchenväter ist es zu verdanken, diese zwei, nämlich der Schöpfer und sein Geschöpf, weder zu vermischen, noch voneinander zu trennen, sondern sie voneinander zu unterscheiden. Im Streit wie die zwei Naturen von Christus, seine Fleischwerdung und seine Gottheit zu verstehen seien und miteinander in Einklang zu bringen sind, wurde anlässlich des Konzils von Chalcedon im Jahre 451 dieses oben angewendete Prinzip „weder trennen, noch vermischen, jedoch voneinander unterscheiden“ formuliert und dargelegt.

 

Zweitens gibt uns nur dieses Prinzip einen genauen Blick auf den Menschen als Repräsentanten Gottes auf dieser Erde, entweder im Bild seiner eigenen Ungerechtigkeit oder als erretteter Mensch, welcher mehr und mehr die Gerechtigkeit und Heiligkeit in Christus reflektiert.

 

Drittens müssen wir verstehen, wie die zwei Königreiche nach dem Sündenfall entstanden sind. Das heisst, das Königreich Gottes der “allgemeinen Gnade“ und das der “speziellen Gnade“. Offiziell errichtet wurde das Königreich der “allgemeinen Gnade“ durch den Bund mit Noah, während das Königreich der “speziellen Gnade“ durch den Bund mit Abraham entstand. Beide sind Königreiche Gottes, welche unter seiner souveränen Regierung und Autorität stehen. Gläubige in Christus leben in beiden Königreichen, haben jedoch ihr Bürgerrecht nur im Königreich der “speziellen Gnade“.

 

Nach dem Sündenfall wurde der sichtbare, makrokosmische Tempelgarten unsichtbar für den gefallenen Menschen. In der Geschichte der Erlösung konnten Menschen in bestimmten Situationen, den Tempel und Thronsaal Gottes wieder sehen, in dem er ihnen geistlich geöffnete Augen schenkte. Wir sehen die Herrlichkeit Christi zum Beispiel in der Theophanie der Wolkensäule während dem Exodus. Später dienten die Bundeslade und der Tempel in Jerusalem als Wohnung Gottes. Unter anderem wurden bei der Berufung des Propheten Jesaja (Jesaja 6) und bei der Vision des Sacharia (Sacharia 3,1-5) Menschen die geistlichen Augen geöffnet, um diesen Thronsaal und Tempel zu erkennen. Seit der Menschwerdung von Jesus Christus wurden die Gläubigen selber zum heiligen Tempel in Christus (Epheser 2,10-22). Bis zur Wiederkunft Christi wird das Herz des Gläubigen jedoch ein mikrokosmischer Tempel bleiben.

 

Daraus erkennen wir, dass die menschliche Schöpfung immer “coram Deo“ steht. Wir müssen auch das Konzept der zwei Königreiche Gottes in Betracht ziehen und dabei die Unterscheidung machen zwischen der Sphäre der “allgemeinen Gnade“ sowie der Sphäre der “speziellen Gnade“. Wir beachten, dass beide Königreiche Gottes unter der souveränen Herrschaft Gottes stehen, denn Gott als Schöpfer hat jeden Bereich seiner Schöpfung unter seiner souveränen Kontrolle. Innerhalb seines Königreichs der “gewöhnlichen Gnade“ werden Macht und Auswirkung der Sünde durch Gott eingeschränkt und kontrolliert. In seinem Königreich der “allgemeinen Gnade“ jedoch macht Gott seine Kinder durch sein Erlösungswerk und eine neue Beziehung “in Christus“ frei von Sünde und Scham (1. Korinther 1,9). Nun ist dieses Prinzip von entscheidender Bedeutung, um sowohl das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung als auch die Stellung und den Kontext von Poimenik und Psychologie zueinander zu verstehen. Denn die Psychologie findet in dem Reich der "allgemeinen Gnade“ statt. Eine christliche Seelsorge vorwiegend im Reich der "speziellen Gnade“.

 

Ich möchte darauf hinweisen, dass dieser Gedanke von den zwei Reichen von Aurelius Augustinus in seiner grossen Apologie “Vom Gottesstaat“ erstmals zum Ausdruck kam. Dabei benutzt Aurelius Augustinusus das Bild und die Idee von zwei Städten. Später begegnen wir diesem Bild wieder in Martin Luthers "Zwei Reiche-Lehre“. Er bezieht sich dabei nicht auf zwei Städte, wie es Aurelius Augustinus tut, sondern auf zwei Königreiche. Beide Königreiche Gottes besitzen je eine Hauptstadt, nämlich die Stadt der Zerstörung sowie Zion. Gläubige sind nicht länger Bürger der irdischen Stadt der Zerstörung, denn sie haben nunmehr das himmlische Bürgerrecht in Zion.

 

Heinrich Bullinger, Nachfolger von Huldrych Zwingli in Zürich, weist in seiner Schrift “Der alte Glaube“ darauf hin, dass seit dem Sündenfall zwei Arten von Menschen existierten. Auch der Puritaner John Bunyan beschreibt in seinem bekannten Werk “Die Pilgerreise“ diese zwei Städte. Natürlich stimmen die Beschreibungen der zwei Königreiche durch diese Gottesmänner nicht in jedem Punkt überein. Jedoch sprechen sie von derselben Realität dieser zwei Sphären, jedoch aus verschiedenen Perspektiven gesehen.

 

Noch einmal möchte ich betonen, dass die ganze Schöpfung dem hermeneutischen Prinzip der Rechtfertigung unterstellt ist. Seit der Erschaffung der Welt war die Wolke der Herrlichkeit, der Geist Gottes der über dem Wasser schwebte und somit Jesus Christus selbst Gegenüber und Bedeckung seiner Schöpfung (Genesis 1,1-2 und Hebräer 1,1-3). Himmel und Erde wurden als makrokosmische Tempel Gottes erschaffen (Jesaja 66,1). Nach dem Sündenfall war Adam und Eva der Blick auf den Thron Gottes verwehrt. Weil der Mensch in seiner Ungerechtigkeit die Wahrheit Gottes unterdrückt, ist er nicht in der Lage, die Herrlichkeit Gottes zu sehen oder zu erkennen, ausser Gott selbst öffnet die blinden und verfinsterten Augen (Römer 1,18).

 

In der Heiligen Schrift finden wir viele Texte, welche Situationen beschreiben, in denen die Augen von Menschen geöffnet wurden und sie durch den Schleier auf das Allerheiligste und den Richterstuhl Gottes blicken konnten (z.B. Jesaja 6; Sacharja 3,1-5; Hesekiel 1; Offenbarung 4 bis 5 und Offenbarung 21). Wann immer es dem Menschen durch Gottes Gnade möglich wird, nicht nur die sichtbare, materielle Welt wahrzunehmen, sondern auch die für das natürliche Auge unsichtbare Realität von Gottes Herrlichkeit und seinem makrokosmischen Tempel, wird ihm bewusst, dass er vor Gottes Thron lebt. Genau dies war es, was die Reformatoren “coram Deo“, vor Gott leben, nannten. Weil die ganze Schöpfung Gottes makrokosmischer Tempel ist, steht auch die ganze Schöpfung vor ihm.

 

Die Sichtweise, dass der Mensch vor Gott lebt (coram Deo), ist innerhalb der Seelsorgebewegung mehr und mehr verblasst, ja vielleicht sogar vollständig verschwunden. Es herrscht die Meinung vor, dass der Mensch ein autonomes Dasein vor sich selber führt (coram hominibus). Es ist deshalb die Aufgabe des Gläubigen, sein Herz rein zu halten und es gegen alle Ungerechtigkeit zu behüten. Dies ist dasselbe Mandat, welches Adam und Eva erhielten, nämlich zu dienen (Hebräisch “abad“: zu dienen, zu bebauen) und zu erhalten (Hebräisch “shamar“: zu erhalten, zu bewahren).

 

„Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute (abad) und bewahrte (shamar).“ 1. Mose 2,15

 

Dieses Mandat, welches dem Menschen gegeben wurde, muss innerhalb des Kontextes verstanden werden, in dem er lebte. Adam und Eva lebten im Tempelgarten. Deshalb müssen die beiden Worte “dienen“ als auch “bewahren“ vorrangig als priesterliche Aufgaben gesehen werden. Sie sollten in Gehorsam Gott dienen und sein Wort bewahren oder anders ausgedrückt, alle Ungerechtigkeit aus dem Garten fernhalten. Im Sündenfall haben sowohl Adam wie auch Eva versagt. Matthäus 4 beschreibt, wie der zweite Adam, Jesus Christus, diese Aufgabe im vollkommenen Gehorsam erfüllte. Jesus Christus benutzte das Wort Gottes, um gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen und sein eigens Herz rein zu halten. “In Christus“ ist sich der Gläubige gewiss, dass Christus das Gesetz an seiner Stelle hält, denn “in Christus“ sind die Gläubigen in engster Gemeinschaft mit Christus verbunden, welcher stellvertretend für sie in Gerechtigkeit lebt. Aus diesem Grund wird es in der Ewigkeit keinen Tempel mehr geben, denn die Gläubigen selber sind die Tempel in Christus (Offenbarung 21,22).

 

Nach dem Sündenfall ist der Mensch entweder “in Adam“, was bedeutet, dass die Ungerechtigkeit in seinem Herzen regiert, oder der Mensch ist erlöst “in Christus“. Auch “in Christus“ unterliegt der Gläubige der Spannung von “simul peccaor et iustus“ (10) und muss lernen, durch Glauben zu leben. Denn dies ist die Aufgabe des erlösten Menschen, nämlich sein Herz rein zu halten, sich von aller Ungerechtigkeit fern zu halten und sich alleine auf die Gerechtigkeit in Christus zu verlassen. Solcherart das Gesetz zu halten ist alleine durch die Gnade Gottes möglich.

 

Zur gleichen Zeit ist das Herz des Menschen der “Kontaktpunkt“, das heisst der Ort, wo das Wort Gottes seine Wirkung entfaltet. Es ist ebenfalls der Ort, wo der Mensch Entscheidungen trifft, seine Motive prüfen kann und Sünde erkennen und bekennen kann, Jedoch kann nur der Heilige Geist durch Gottes Gnade ein gefallenes, hartes menschliches Herz in ein erleuchtetes, verändertes “fleischernes“ Herz verwandeln (Hesekiel 36,26). Andernfalls wird der gefallene Mensch damit weiterfahren, die Wahrheit in Christus durch seine Selbstgerechtigkeit zu unterdrücken. Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung betreffend Kontext und Stellung der Poimenik kann wie folgt dargestellt werden:

 

3) Anthropologie: Sünde und Scham – “Gesetz und Evangelium“

Das Konzept der Anthropologie ist die Grundvoraussetzung für die Seelsorge. Denn ihre Methoden und ihre Soteriologie hängen vom anthropologischen Verständnis ab. Es liegt ja auf der Hand, dass die Anthropologie die Methoden, Techniken und das Verständnis der Soteriologie bestimmt. Das menschliche Bedürfnis nach Rechtfertigung und Erlösung wie auch die Struktur und Funktion der Rechtfertigung werden in diesem Abschnitt begründet und in den grösseren Kontext von Sünde und Scham gestellt.

 

Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung zeigt in der Tat das Bedürfnis des Menschen, gerechtfertigt zu sein. Ohne Rechtfertigung in irgendeiner Form ist der Mensch nackt, entblösst, beschämt und schuldig vor Gott und den Menschen. Im Kontext der Anthropologie kann das hermeneutische Prinzip in Martin Luthers berühmter Formel “simul peccator et iustus“ zusammengefasst werden.

 

Nachfolgend soll gezeigt werden, dass das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung einer theologischen Notwendigkeit entspricht. Wir können aber auch eine psychosoziale und neurobiologische Notwendigkeit erkennen.

  • In der Theologie verstehen wir das Prinzip der Rechtfertigung als “ablegen“ und “anziehen“ einer Bedeckung. Es ist das Bedürfnis des gefallenen Menschen, seine eigene Nacktheit zu bedecken, entweder durch seine eigene Selbstrechtfertigung (bildlich gesprochen durch Feigenblätter) oder als erlöster Gläubiger durch die Gerechtigkeit in Christus.
  • In der psychosozialen Wissenschaft finden wir Beschreibungen für den Zwang des Menschen bedeckt zu sein durch seine eigene Selbstrechtfertigung in Sigmund Freuds Terminologie “Abwehrmechanismus“. Diese Abwehrmechanismen mit all ihren verschiedenen Merkmalen werden beschrieben als Rationalismus, Vermeidung, Unterdrückung u.a.m. Ausserdem finden wir eine Beschreibung der menschlichen Selbstrechtfertigung z.B. in der Terminologie “Coping“ und der "Affektregulation".
  • In der Neurowissenschaft finden wir das menschliche Bedürfnis nach Bedeckung im psychologischen Prozess beschrieben im Ausdruck “Konsistenzsicherungsmassnahmen“ (Grawe, Klaus; Neuropsychotherapie; 2004). Dabei handelt es sich um die Kompensation jeglicher neuraler Inkongruenz. Das bedeutet das Gleiche wie der Versuch des Menschen, sich vor Entblössung zu schützen oder seine gefühlte psychologische Nacktheit zu bedecken.

Ausgehend von diesen Ergebnissen schliessen wir, dass der Mensch immer das Bedürfnis hat, seine Blösse von Sünde, Schuld und Scham zu bedecken. In jedem Bereich erkennen wir eine bestimmte Art von Terminologie, welche auf dasselbe grundsätzliche Bedürfnis des Menschen nach Bedeckung hinweist. Dieses Bedürfnis nach Bedeckung kann als zwanghaftes Verhalten bezeichnet werden, welches nicht mehr unter menschlicher Kontrolle ist. Die theologische Terminologie beschreibt dies als Verhalten des versklavten Menschen, welcher dem Zwang unter-worfen ist, alles menschenmöglich zu tun, um bedeckt zu sein.

 

Dieses anthropologische Bedürfnis nach Bedeckung ist letztlich die Essenz der Selbstrechtfertigung. Selbstrechtfertigung geschieht entweder durch die Bedeckung der eigenen Nacktheit oder durch Ablenkung davon, indem die Blösse anderer Menschen aufgedeckt wird. In Beziehungen führt dies zu einem Teufelskreis, denn jede Selbstrechtfertigung führt zur Selbstrechtfertigung desjenigen, vor dem sich jemand rechtfertigt. Dies führt zu zerbrochenen, lieblosen und feindseligen Beziehungen in der Ehe, in Familien und unter Freunden. Der Teufelskreis kann nur durchbrochen werden durch die Erlösung des Menschen und das ist seine Bedeckung durch die Gerechtigkeit in Christus. Speziell Eltern geben ihre Tendenz zur Selbstrechtfertigung an ihre Kinder weiter. Natürlich lernen die Kinder dies nicht explizit, aber ihre Herzen übernehmen die Haltung der Eltern und ahmen ihr selbst rechtfertigendes Verhalten nach.

 

Ein vernachlässigter Aspekt in Bezug auf das Bedürfnis des Menschen nach Bedeckung ist die Scham. Scham war die erste und intensivste Emotion mit der unsere Ureltern nach dem Sündenfall konfrontiert waren. An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir unterscheiden zwischen Scham, Schuld und Sünde. Wir sollten Schuld und Scham ebenfalls nicht voneinander trennen oder miteinander vermischen, sondern voneinander unterscheiden.

 

Scham ist ein zentrales Thema in der Seelsorge, weil es eine starke und nicht aushaltbare Emotion ist. Das Gefühl der Beschämung ist so intensiv, dass der Mensch normalerweise alles unternimmt, um dieses Gefühl zu vermeiden oder loszuwerden. Aus diesem Grund muss der Seelsorger um das Wesen der Scham wissen, insbesondere um ihren zerstörenden Einfluss auf Beziehungen. Deshalb muss jeder Seelsorger zuerst einmal mit seiner eigenen Scham umgehen und auch die Auswirkungen der Scham erkennen, welche innerhalb eines Seelsorgegesprächs sichtbar werden können.

 

Die zentrale Frage ist, wie wir mit dieser durchdringenden, beschämenden Emotion der Scham umgehen können, welche so überwältigend ist, dass Menschen oft nur in der Unterdrückung und Vermeidung der Scham durch zerstörerisches und sündhaftes Verhalten einen Ausweg sehen. Selbst unsere Ureltern, Adam und Eva, fanden keine andere Lösung, als sich mit Feigenblättern zu bedecken und voreinander zu verstecken und sich vor Gott hinter Büschen zu verbergen. Feigenblätter sind ein Bild für den kläglichen Versuch des Menschen, sich hinter seiner eigenen Selbstgerechtigkeit zu verstecken.

 

Wir müssen zuallererst erkennen, dass Jesus Christus nicht nur für unsre Schuld und Sünde gestorben und auferstanden ist, sondern auch für unsre Scham (Hebräer 12,1-2; Psalm 69,8; Römer 15,3). Scham ist offensichtlich nicht dasselbe wie Sünde und Schuld, trotzdem gibt es hier sehr oft Vermischungen. Es ist jedoch sehr wichtig, dass wir sie nicht nur voneinander unterscheiden können, sondern auch ihren Zusammenhang verstehen. In Bezug auf das Erlösungswerk Christi stellen wir mit Erstaunen fest, dass Christus, welcher erniedrigt und beschämt wurde (Jesaja 53), dieses zur-Schau-gestellt-werden, diese Beschämung ertragen hat, weil er diese überwältigende Emotion als weniger wichtig erachtete als den Gehorsam seinem himmlischen Vater gegenüber (Hebräer 12,1ff).

 

Grundsätzlich geschieht die Heilung von den zerstörerischen Folgen von Scham auf die gleiche Weise wie die von der Sünde. Wie von Christus vorgelebt, sind es Gehorsam und Glauben an den himmlischen Vater, welche die Scham erträglich machen. König David vertraute auf Gottes Gerechtigkeit und Bedeckung, anstatt auf seine eigene Selbstgerechtigkeit. Im Vertrauen zu Gott fleht er ihn an, dass er ihn davor bewahren möge, beschämt zu werden:

 

„Mein Gott, auf dich vertraue ich; lass mich nicht zuschanden werden, lass meine Feinde nicht über mich frohlocken!“ Psalm 25,2

 

Sowohl Sünde wie auch Scham bedürfen des hermeneutischen Prinzips der Bedeckung der menschlichen Blossstellung und Nacktheit durch die Gerechtigkeit in der Person Jesu Christi allein. Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung bezüglich Anthropologie ist die berühmte Formel von Martin Luther:

 

4) Soteriologie: Wie Geschichten das Leben verändern

Das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung bringt die Heilsgeschichte in einen perfekten Zusammenhang mit der Schöpfung, der Gemeinde und der persönlichen Geschichte jedes einzelnen erlösten Individuums. Die individuelle, persönliche Lebensgeschichte mit der Heilsgeschichte Gottes zu verknüpfen ist eine grundsätzliche Aufgabe der Poimenik.

 

In Christus handelt der christliche Seelsorger immer gleichzeitig als König, Priester und Prophet. Diese drei Ämter von Jesus Christus haben zusammen und miteinander die erlösende Funktion und sind deshalb für die christliche Poimenik unersetzlich. Ohne diese drei Ämter ist es unmöglich, die individuelle Lebensgeschichte mit der Heilsgeschichte Christi zu verbinden.

 

Warum? Es ist die Wahrheit im Wort Gottes, welches die menschlichen Augen öffnet und ihn befähigt, die Herrlichkeit Gottes zu sehen. Nur der Priester kann auf den Opfertod Christi hinweisen, durch den die Herzen von Ungerechtigkeit gereinigt und durch das Blut Christi bedeckt werden. Und es ist der König, welcher die Macht hat, das Herz des Gläubigen unter die Herrschaft seines Königreichs zu nehmen.

 

Diese seelsorgerliche Aufgabe muss “in Christus“ mittels den drei Ämtern wahrgenommen werden und keinesfalls in Rollen wie des Beraters, Coaches, Zeuge oder eines Therapeuten etc., welche sich hinter einem Deckmantel der Professionalität verbergen. Seelsorger unterstellen sich deshalb zuerst selbst dem König aller Könige, dem Hohepriester aller Priester und dem einzig wahren Propheten. Vielleicht wird innerhalb der Soteriologie die beziehungsmässige Dimension des hermeneutischen Prinzips der Rechtfertigung am meisten sichtbar. Der beziehungsmässige Aspekt der Erlösung im hermeneutischen Prinzip der Rechtfertigung kann in der Formel “Du bist mein“ und “Ich bin dein“ gefunden werden.

 

In der Seelsorge stellt sich die grundsätzliche Frage, wie das hermeneutische Prinzip der Recht-fertigung praktisch umgesetzt werden kann. Eine Antwort finden wir in Römer 15,7. Paulus schreibt:  “Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“

 

In der Seelsorgebewegung wurde auf verschiedene Weise versucht, diese grundsätzliche Frage der Seelsorge zu beantworten, nämlich wie wir einander annehmen können. Interessanterweise wurde diese Aufforderung des Paulus nie von der erneuerten Beziehung in Christus ausgehend, welcher den gefallenen Menschen aus seiner alten Beziehung “in Adam“ befreit hat, verstanden.

 

Aus diesem Grund hat die Seelsorgebewegung der Rolle des Seelsorgers alle möglichen Attribute zugesprochen, um die Akzeptanz des Ratsuchenden durch den Seelsorger zu gewährleisten. Darunter finden wir Ausdrücke wie Zeuge, Priester, Therapeut, Berater oder sogar “Kybernos“ (griechisch für Steuermann). All diese verschiedenen Rollen, welche den Seelsorgern zugesprochen wurden, genügen jedoch nicht und sind auch keine Grundlage für eine Christus-zentrierte Seelsorge. Denn lediglich Zeuge zu sein ist keine Hilfe für Menschen in Not. Die Rolle des Priesters unterliegt dem Anspruch, dass ein Seelsorger eine Heilungsgabe haben sollte, um das Problem zu lösen. Therapeut zu sein bedeutet, menschliche Ansprüche und Wünsche zu erkennen und als Therapeut zu erfüllen. Der Ausdruck “Berater“ deutet darauf hin, dass Proklamation und Predigt von Gottes Wort von der Seelsorgesitzung ausgeschlossen sind. Aber wie kann ein Mensch eine Aufgabe übernehmen, zu der alleine Gott fähig ist? Können übernommene Rollen wirklich zu einer Erlösung führen oder braucht es eben nicht vielmehr ein Amt, welches in göttlicher Autorität ausgeführt wird?  

 

Aus diesem Grund ist die Aussage in Römer 15,7 sehr bedeutsam, denn sie deutet auf eine Person ausserhalb des Seelsorgers hin. Wir können den Text von Paulus so interpretieren, dass ein Seelsorger den Ratsuchenden mit Jesus (sic!) zu Jesus führt, das heisst gemeinsam vor den Thron der Gnade kommen (Hebräer 4,15ff).

 

Das griechische Wort für “aufnehmen“ in Römer 15,7 heisst “proslambano“, welches bedeutet, jemand in die Tisch- und Hausgemeinschaft aufzunehmen. Das heisst also, dass dieses “aufnehmen“ in die Gemeinschaft der Sünder eine Aufgabe ist, welche die Gläubigen "in Christus" und als Gemeinde Jesus zu erfüllen hat. Trotzdem versteht sich die christliche Seelsorge diese Art von menschlicher Akzeptanz, welche als “Rogerianischen Konsensus“ bekannt ist, nicht als “Analogie“ zum Erlösungswerk von Christus. Es gilt hier die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung und den Unterschied zwischen menschlicher Akzeptanz und göttlicher Rechtfertigung zu beachten.

 

Wir müssen uns klar darüber sein, dass der Mensch niemals autonom leben kann, sondern immer abhängig ist, entweder vom Bund “in Adam“ oder vom Bund “in Christus“. Aus diesem Grund kann ein Seelsorger die Ämter des Königs, des Priesters und des Propheten nur "in Christus“ ausführen, denn diese Aufgabe gehört nur Gott allein und kann nur durch Gott allein wahrgenommen werden. Gedanken, in welchen sich der Mensch zumutet, diese Ämter selber auszuführen zu können, stammen aus dem stolzen Herzen des gefallenen Menschen, der wie Gott sein will.

 

Wir sehen also, dass die Erlösung einerseits eine forensische, rechtliche Deklaration ist, welche jedoch immer in einer Beziehung eingebettet ist, nämlich in der Gemeinschaft "in Christus". Das ist die Rechtfertigung aus Glauben allein. Der Mensch lebt immer innerhalb einer Beziehung. Das heisst aber, dass der Mensch auch in seine eigene Lebensgeschichte eingebettet ist. Eine solche Lebensgeschichte kann sehr traurig und schmerzhaft sein. Nur indem wir die Heilsgeschichte von Jesus Christus annehmen, und sie zu unserer eigenen Lebensgeschichte machen, können wir von der Macht unserer sündigen, beschämenden und schmerzhaften Lebensgeschichte erlöst werden. Gleichzeitig bedeutet das auch, dass der gefallene Mensch durch das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung von seiner alten Beziehung “in Adam“ erlöst wurde und unter dem neuen Bund in eine neue Beziehung “in Christus“ gestellt worden ist.

 

Ein sehr eindrückliches Beispiel dafür ist der Exodus des Volkes Israel und der Aufenthalt in der Wüste. Hier sehen wir eindrücklich, wie vollkommen die Geschichte Israels übereinstimmt mit der Erlösungsgeschichte des allmächtigen Gottes mit dem einzelnen Gläubigen. Der biblische Text in 5. Mose 8 beschreibt die Mühsal der gemeinsamen und individuellen Lebensgeschichte und verbindet diese Geschichte mit der Heilsgeschichte, der Erlösungsgeschichte Gottes. In diesem Abschnitt wird aufgezeigt, dass die Erniedrigung und Mühsal dazu dienten, die Motive des menschlichen Herzen aufzudecken, um dessen Hingabe oder Untreue gegenüber seinem Erlöser aufzuzeigen. Es war das Ziel der Geschichte, den Israeliten die Überlegenheit des Wortes Gottes als Brot des Lebens gegenüber dem täglichen Manna aufzuzeigen.

 

Wir schliessen daraus, dass eine der Hauptaufgaben in der christlichen Seelsorge darin besteht, die allgemeine und individuelle Lebensgeschichte des Ratsuchenden mit der Erlösungsgeschichte Jesu Christi zusammen zu bringen. Das heisst, dass wir die Ratsuchenden in die Beziehung “in Christus“ hineinnehmen und somit vor den Gnadenthron bringen. Angewendet auf das hermeneutische Prinzip der Rechtfertigung kann diese Art der Beziehung im Bereich der Soteriologie wie folgt dargestellt werden:

Anwendungen

 

Nachfolgend möchte ich kurz auf einige wichtige Anwendungsbereiche eingehen, welche vom hermeneutischen Prinzip der Rechtfertigung abgeleitet werden. Dabei handelt es sich um drei verschiedene Anwendungsbereiche, nämlich Martin Luthers “magnificare peccatum“ (11), “Das dreifache Wissen des christlichen Lebens“, welche im Heidelberger Katechismus beschrieben ist sowie die praktische Anwendung des hermeneutischen Prinzips in einem Seelsorgegespräch.

  • Martin Luthers “magnificare peccatum“

Für Martin Luther war es wichtig, der Sünde nicht weniger, sondern im Gegenteil grösseres Gewicht beizumessen, um damit das Erlösungswerk Christi noch kostbarer zu machen und Gott zu verherrlichen. Martin Luther weist auf Davids Psalm 51 und Römer 3,4 hin. Der Mensch muss das Urteil Gottes über seinen sündhaften Zustand als richtig erkennen und akzeptieren. Andernfalls nennt er Gott einen Lügner und spricht sich selbst gerecht. Das steht im klaren Gegensatz zum Wort Gottes, welches sagt, dass der Mensch lügt, die Wahrheit verdreht und ungerecht ist und nicht Gott (Römer 3ff; 1. Johannes 1,8ff). Diese Art des Denkens offenbart den Stolz im menschlichen Herzen und weist auf menschliche Selbstgerechtigkeit und Selbstverherrlichung hin. Solange der Mensch nicht Gottes Urteil über seinem Leben anerkennt, spricht er sich selbst gerecht und verachtet die Gerechtigkeit, die von Jesus Christus kommt. Bezug nehmend auf Paulus Schreiben an die Römer, fragt Martin Luther: „Wer anders soll Gnade erlangen als derjenige, der seine Sünde bekennt?“

 

In der echten christlichen Seelsorge bedeutet dies, dass wir die Selbstanklage der Ratsuchenden nicht beschönigen, sondern sie auf den Thron der Gnade hinweisen, wo genug Gnade in Jesus Christus vorhanden ist. Martin Luther beschreibt an verschiedenen Stellen, wie er verzweifelte Menschen in die Gemeinschaft der Gerechtfertigten hineingenommen hat, indem er sie auf die Gnade, welche in Jesus Christus ist, hingewiesen hat. Das bedeutet, mit Christus zu Christus zu gehen, denn ohne Gnade ist es niemandem möglich, vor den Thron der Gnade zu kommen. Martin Luthers “magnificare peccatum“ ist daher ein wichtiger Aspekt der christlichen Poimenik, weil Gottes absolute Herrlichkeit darin sichtbar wird und seine Ehre im Blickfeld hat.

  • Das “Dreifache Wissen des christlichen Lebens“

Der Heidelberger Katechismus von 1563 ist in drei Bereiche aufgeteilt, was wir bereits aus der zweiten Frage und Antwort erkennen können: „Was musst du wissen, dass du in diesem Trost selig leben und sterben kannst?“  „Drei Dinge: Erstens: Wie gross meine Sünde und mein Elend ist. Zweitens: Wie ich von allen meinen Sünden und meinem Elend erlöst werden kann. Drittens: Wie ich Gott für solche Erlösung dankbar sein soll.“

 

Die erste epistemologische Voraussetzung besteht darin, menschliche Sünde und menschliches Elend zu erkennen. Dieses Elend zeigt sich nicht nur in der persönlichen Sündhaftigkeit, sondern auch in der Abhängigkeit von der Sünde, ausserdem im Verunreinigt-und-Beschämt-Werden durch die Sünde anderer. Diese Einsicht sollte den leidenden Menschen zum Erlöser Jesus Christus führen. Wie Martin Luther es beschreibt, ist es der “paidagogos“, der Zuchtmeiser, welcher auf Jesus Christus hinweist und uns zu ihm hinführt.

 

Hier geht es also einmal mehr um eine Frage der Epistemologie, nämlich Christus zu erkennen und durch ihn zu leben (Johannes 17,3 und 2. Timotheus 2,25). Erlöst zu sein heisst, die Person Jesus Christus zu kennen. Wir schliessen daraus, dass ein christlicher Seelsorger wissen muss, wie er den Ratsuchenden mit Jesus Christus bekannt machen kann. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Es ist jedoch hauptsächlich die persönliche Beziehung des Seelsorgers zu Jesus Christus und seine Liebe zum Ratsuchenden, welche den Weg zum Herzen freimachen und so die Beziehung zu Jesus Christus ermöglichen.

 

Der dritte Aspekt weist auf ein erneuertes und geheiligtes Leben hin. In einem Prozess der Heiligung führt dies zu Dankbarkeit gegenüber dem Geber aller Gaben. In der Gegenwart Gottes wird der Mensch verändert, die Folge davon ist ein dankbares Herz. Aurelius Augustinus beschreibt in seinen Werken auf eindrückliche Weise, dass wir nicht die Gabe anbeten, sondern immer dankbar gegenüber dem Geber sein sollten. Der Heidelberger Katechismus zeigt mit aller Deutlichkeit auf, dass es immer Gott alleine ist, der den sündigen Menschen zu einem Leben der Dankbarkeit befähigt. Aus diesem Grund gehört auch alle Ehre alleine Gott.

  • Anwendung des hermeneutischen Prinzips

Die Methode der Poimenik besteht einerseits darin, die Schrift zu kennen und aus diesem Schatz Altes und Neues hervorholt (Matthäus 13,52). Andererseits die Motive des menschlichen Herzens zu erkennen, zu dem nur ein kluger Mann befähigt ist (Sprüche 20,5). Je besser ein Seelsorger die Schrift kennt, desto mehr und besser kann er den Ratsuchenden und seine oft verborgenen Motive verstehen. Im gleichen Masse, wie die Erkenntnis Gottes des Seelsorgers wächst, kann der Mensch im Licht der Schrift erkannt und verstanden werden.

 

Eine junge Frau, die an Panikattacken leidet, beschreibt einen kürzlichen Vorfall wie folgt: Sie sass in einem Bus auf dem Weg in ihre Kirchgemeinde als sie eine Panikattacke überfiel. Zusammen mit einigen anderen Gemeindemitgliedern hatte sie vor, mitzuhelfen, die Kirche zu reinigen. Während eine Panikattacke und eine verzerrte Realität sicherlich mit einer körperlichen Schwäche zu tun haben, enthüllt das Gespräch mit dem Seelsorger die Motive ihres Herzens. Der Seelsorger fragte die junge Frau, was ihre Gedanken waren, als sie ihre Wohnung verliess, um beim Reinigen mitzuhelfen. Zuerst war die junge Frau etwas verdutzt, doch dann lächelte sie: „Eigentlich wollte ich nicht gehen …“ „Was meinen Sie damit?“ „Eigentlich putze ich nicht gerne, und ich wollte nicht so tun, als ob ich Freude hätte. Es war ein beschämendes Gefühl.“

 

Weitere Fragen deckten auf, dass sie Angst hatte vor der Diskrepanz zwischen ihren eigenen Ansprüchen und den Erwartungen, die andere an sie hatten. Erwartungen sind wie Gesetze und daher unbarmherzig und ohne Gnade. Die junge Frau hatte versucht, den Erwartungen anderer durch eigene Kraft zu entsprechen. Dies war ihr jedoch nicht möglich. Durch das Lesen der Schrift lernte sie, mehr Vertrauen in Gott zu setzen, als in ihre eigenen Möglichkeiten zu vertrauen. Nach einigen Wochen waren ihre Panikattacken beinahe verschwunden.

 

Zusammenfassung

 

Wir können feststellen, dass gleichzeitig mit dem Verlust der Gnade im Kontext einer anthropo-logischen und empirischen Veränderung die christliche Poimenik den Fokus auf die Rechtfertigung allein durch Glauben verloren hat. Als Ersatz sehen wir verschiedene Arten von Rechtfertigung, welche im Widerspruch stehen zur Rechtfertigung durch Glauben allein und bei denen es sich um Rechtfertigung durch Werke handelt.

 

Die Seelsorgebewegung hat die Haltung einer Bittstellerin entwickelt, seitdem das Wort Gottes und die Gnade in der Person Jesus Christi als nicht mehr ausreichend angesehen werden, um den Bedürfnissen in der Seelsorge zu entsprechen. Interessanterweise hat die christliche Seelsorge, die Poimenik, im Gegensatz zur Kirche im Allgemeinen einen entgegengesetzten Weg gewählt. Normalerweise evangelisiert die Kirche und versucht, Menschen in Beziehung zu Christus zu bringen. Im Gegensatz dazu betätigt sich die christliche Seelsorge als Bittstellerin und versucht, wissenschaftliche Einsichten und Methoden ins Königreich Gottes der aussergewöhnlichen Gnade zu integrieren.

 

Gnade und Wort Gottes wurden in Frage gestellt und als unzureichend für die Seelsorge angesehen, ohne dass die Kirche davon Kenntnis genommen hat. Jay E. Adams war einer der ersten, der versucht hat, die biblische Seelsorge wieder zurück in die Kirche zu bringen. Zuerst war er damit nicht sehr erfolgreich. Die Kirche hat in den “verlockenden Apfel der Psychologie“ gebissen, weil er anscheinend "klug" machen soll (1. Mose 3,6). Damit hat sie die Gnade in der Person von Jesus Christus verneint und vergessen. Empirische Forschung und Wissenschaft haben das Evangelium von Jesus Christus ersetzt und die Psychologie wurde zur Ersatzreligion.

 

Aus diesem Grund muss die christliche Poimenik alles daran setzen, die Gnade wieder zu erlangen, anstatt sie mit Psychologie zu vermischen oder sich von ihr abzusondern. Es muss den Menschen ermöglicht werden, auf eine klar ersichtliche Weise einen Zugang zur Rechtfertigung durch Glauben alleine in Christus zu finden, welche völlig ausreichend angesehen werden muss, um den notwendigen Bedürfnissen des Menschen zu genügen.

 

Allerdings sollten wir auch empirische Forschung und Wissenschaft nicht vorschnell von uns weisen. Wir sollten christliche Seelsorge und Wissenschaft als verschiedene Bereiche unter Gottes souveräner Herrschaft betrachten. Beide haben ihren Platz und ihren Zweck und dienen letztlich dazu, Gott zu verherrlichen. Gleichzeitig sollten wir Seelsorge und die Psychologie voneinander unterscheiden, aber nicht miteinander vermischen oder auch nicht voneinander trennen.

 

Die christliche Poimenik kennt die Gnade in der Person von Jesus Christus. Und diese genügt, um alle Bedürfnisse des Gläubigen in seinem Leben “coram Deo“ zu stillen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit weltlichen Dingen, welche Gott in seiner Güte bereitstellt. Aus diesem Grund sollten wir Gottes Gnade und Versorgung durch Medizin, Wissenschaft und so weiter dankbar annehmen. Poimenik darf jedoch die “eisernen“ Methoden, wie Martin Luther sie nennt, die psychotherapeutischen Methoden des Königreichs der allgemeinen Gnade nicht anwenden, um das Herz der Menschen zu verändern. Denn es ist ein aussichtsloses Unterfangen, denn das menschliche Herz kann nur durch Gott und seinen Geist verändert und regiert werden.

 

Aus diesem Grunde steht und fällt christliche Poimenik mit dem hermeneutischen Prinzip der Rechtfertigung, weil in dieser Frage die Gnade und Ehre Gottes auf dem Spiel stehen. 

[1] Poimenik (von griech. poimén = Hirte) ist die Lehre von der Seelsorge

[2] Die Hermeneutik (altgriech. ἑρμηνεύειν hermēneúein = erklären, auslegen, übersetzen) ist eine Theorie über die Auslegung von Texten und über ihr Verstehen

[3] Anthropologie bezeichnet die Lehre vom Menschen

[4] Soteriologie bezeichnet die Lehre vom vollendeten Heil bzw. der Erlösung des Menschen

[5] Proprium: (lat. proprium) das Besondere, Eigentümliche

[6] Theophanie (griech. θεός theos = Gott; φαίνεσθαι phainesthai = sich zeigen, erscheinen) bedeutet wörtlich übersetzt 'Erscheinung eines Gottes', die Manifestierung Gottes in der Menschenwelt bzw. Natur von griech. Paideia = Erziehung, Bildung

[7] Die Epistemologie (von griech. ἐπιστήμη episteme = Wissen, Wissenschaft, wahre Erkenntnis und λόγος lógos = Wort, Rede, Lehre) ist die Lehre des Wissens

[8] Exegese (altgriech: exēgesis = Auslegung, Erläuterung) ist die Auslegung bzw. Interpretation von Texten

[9] Zugleich Sünder und gerecht “magnificare peccatum“: Die Sünde gross machen